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Schweizer Wahlkampf 2015
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Schweizer Wahlkampf 2015
Schweizer Wähler

Bachs, 12. September 2015, 13:19 Uhr

Bachs, 12. September 2015, 13:19 Uhr

«Ich wähle immer die Gleichen! Auch dieses Jahr werde ich die Liste 1 (SVP) unverändert einlegen. Ich bringe es nicht fertig, jemanden rauszustreichen, so dass der eine Stimme weniger hat – das finde ich nicht schön. Die FDP wähle ich nicht, weil dort einige die Bilateralen erweitern und noch mehr Personenfreizügigkeit zulassen wollen, obwohl wir jetzt schon fast im Elend sind. Ich habe Herrn Bigler [Anmerkung: gemeint ist Hans-Ulrich Bigler, Direktor Schweizerischer Gewerbeverband] gesagt, dass er seine Leute doch auf ein normales Niveau führen soll. Denn die FDP muss auch wieder richtig bürgerlich sein! Wenn die mit den Linken, den Kommunisten und den Alternativen zusammenarbeiten, dann kann man das nicht mehr bürgerlich nennen. Mir ist es am Wohlsten bei der SVP. Es ist schön hier: Die Musikunterhaltung ist gut, man ist sofort per Du, und man wird auch von Leuten, die man gar nicht kennt, nett begrüsst. Ich glaube, keine andere Partei ist so volkstümlich und aufgeschlossen.»

September 15, 2015von Ronnie Grob
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Analyse

Der Wahlkampf der SVP 2015:
Im Stil freundlich, in der Sache hart

«Politik isch ernst, aber hüt näme mer’s e chli easy!»

Textzeile aus dem SVP-Wahlsong «Welcome to SVP»

Man könnte annehmen, es sei lesenswert, wie einer der wichtigsten Politikjournalisten des Landes, «Rundschau»-Anchor Sandro Brotz, den Wahlkampf der Schweizerischen Volkspartei (SVP) sieht:

EU ächzt, Dublin ausgehebelt, Schengen wackelt – und die SVP hat lustige Videos, glatte Ideen, feiert Marignano. Führungslos? #GagaWahlkampf

— Sandro Brotz (@SandroBrotz) September 13, 2015

Ich glaube, er liegt total falsch und es ist andersrum. Die SVP dominiert den Wahlkampf bisher nach Belieben. Führungslos? Sind eher die anderen Parteien. Die Probleme der EU? Nützen der SVP direkt.

Begründet ist die SVP-Dominanz im Wahlkampf einerseits mit den aktuell im Brennpunkt stehenden Völkerwanderungen durch Europa. Und andererseits mit einer Strategie, die bisher voll aufgeht. Das Thema «Migration», das die Wähler wie kein anderes bewegt und über das viele der anderen Parteien lieber nicht sprechen wollten, ist das bisher einzige grosse Thema des Wahlkampfs. Haben die anderen Parteien eigentlich auch schon grosse Themen lanciert? Wenn ja, welche?

Eine Zäsur

Wer den SVP-Wahlkampf 2015 analysiert, dem muss doch auffallen, dass es sich um eine eigentliche Zäsur handelt. Das erste Mal seit über 20 Jahren sucht die SVP die Aufmerksamkeit nicht mit ästhetisch und ethisch fragwürdigen Plakaten. 2015 gibt es keine Hände, die nach Schweizer Pässen greifen. Keine Ratten, die Geldbörsen anknabbern. Keine Raben, die auf der Schweiz rumhacken. Keine «Verbrecher», die mit Pistolen auf die Bürger zielen. Keine Dunkelmänner, welche die Schweizer Flagge zerreissen. Keine weissen Schafe, die schwarze Schafe aus dem Land kicken. Keine auf Schweizer Terrain eintretende schwarze Schuhe. Die Geschichte der SVP-Plakate seit 1994 hat René Zeller letzten Freitag in einem NZZ-Artikel aufgerollt:

«Läuse, Mäuse, Reitstiefel, gefrässige Raben, gerupfte Hühner, gierige Krummfinger, Kriminelle, schwarze Schafe: Die SVP-Sujets, die konsequent auf die Schmerzgrenze – und zumeist unter die landläufig definierte Gürtellinie – zielten, existieren inzwischen in grosser Zahl. Fast immer folgte die Empörung auf dem Fuss. Und immer lachte sich die SVP ins Fäustchen, wenn sie erneut die Lufthoheit über den Stammtischen errungen hatte.»

Harmlos-biederes Auftreten

2015 spielt sich etwas Neues ab: Der Wahlkampf der SVP ist bisher harmlos, freundlich, bieder, selbstironisch, sogar ein bisschen witzig. Dank tatkräftiger Mithilfe der Medien sind beim Bürger vor allem zwei von der Partei produzierte Musikvideos angekommen: «Wo e Willy isch, isch ou e Wäg» (von Willy Vogel, über 170’000 Abrufe nach zweieinhalb Monaten) und «Welcome to SVP» (von DJ Tommy alias Nationalrat Thomas Matter, über 180’000 Abrufe nach vier Tagen). Die Plakate und Inserate reihen sich dieses Jahr in den Durchschnitt ein, sind vom Stil her nicht extremer als die der anderen Parteien.

Seit dem Aufstieg der SVP zur grössten Partei der Schweiz wird sie – durchaus zu Recht – für ihren schlechten Stil kritisiert. Wird sie jetzt, wo sie bemüht ist, auf den schlechten Stil zu verzichten, dafür gelobt? Ich habe bisher keine solchen Texte gelesen (Hinweise darauf sind willkommen). Und das muss heissen, dass die Journalisten der Partei zutrauen, dass sie im letzten Monat vor der Wahl alles umkrempelt und den Holzhammer auspackt. Oder aber, dass es die Journalisten einfach unterlassen, die SVP zu loben und es aktiv ignorieren, dass die Partei endlich ändert, was die Journalisten nun schon seit zwei Jahrzehnten kritisieren. Ob es sich dabei um ein temporäres Experiment handelt oder um eine dauerhafte Wandlung, bleibt abzuwarten.

Verwirrte Journalisten

Die Abkehr von den Negativ-Plakaten und -Inseraten nimmt den Journalisten, aber auch den SVP-Gegnern eine Projektion. Eine SVP ohne schlechten Stil kann man immer noch kritisieren (es gibt gute Gründe dafür) – es ist einfach nicht mehr ganz so simpel. Dass die Klagen über den schlechten Stil nahtlos von den Klagen über einen angeblichen «Gaga-Wahlkampf» abgelöst werden, hat etwas Heiteres. Denn kümmert es, wer mit der SVP nichts am Hut hat, tatsächlich, wenn sie mit ihrem seichten Willy-Song in der Versenkung verschwindet?

Allerdings haben sogar die Journalisten der «Basler Zeitung», die zu einem Drittel SVP-Übervater Christoph Blocher gehört, noch nicht verstanden, was sich abspielt: «Der versuchte Rollenwechsel irritiert. Was bezweckt die SVP damit?», fragen Hansjörg Müller und Samuel Tanner. Dabei ist die Analyse gar nicht so schwierig: Die ländliche, nicht-akademische, zuwanderungskritische Bevölkerung wählt so oder so SVP – andere Parteien bieten dieser Klientel kaum eine Alternative. 2015 geht es für die SVP vor allem darum, Personen zu gewinnen, die sie nicht sowieso wählen und auch 2011 schon gewählt haben. Sie macht sich deswegen schön für bürgerlich denkende Wähler, denen die Mitteparteien und die FDP zu profillos sind. Erreichen will sie das, indem sie urbane, akademische, intellektuelle Kandidaten wie Albert Rösti, Thomas Aeschi, Hans-Ueli Vogt oder Roger Köppel aufstellt und in den Vordergrund rückt.

Genau hinschauen

Viele empfinden natürlich auch den aktuellen SVP-Wahlkampf als überhaupt nicht harmlos und halten die Verwendung von Wörtern wie «Scheinflüchtlinge» oder «Scheinasylanten» (zum Beispiel im Parteiprogramm 2015-2019) für skandalträchtig. Ebenso selbstverständlich wird sich auch immer wieder irgendein SVP-Hinterbänkler politisch inkorrekt verhalten und so den Medien einen Anlass zur Berichterstattung geben. Die SVP ist eine grosse Partei, die sich fest vorgenommen hat, alle demokratisch und rechtsstaatlich gesinnten Kräfte am rechten Rand aufzusammeln. Dass Mitglieder in Einzelfällen aus der an sich demokratischen und rechtsstaatlichen Linie der Partei ausscheren, wird auch weiterhin vorkommen. Daran wird auch nichts ändern, dass die SVP offen radikal auftretende Mitglieder in den letzten Jahren konsequent ausgeschlossen hat.

Der Wähler darf sich jedoch nichts vormachen. Die Wahlkampfstrategie der SVP heisst 2015 «Im Stil lustig und freundlich, in der Sache aber knallhart». Wer diese Partei wählt, wählt ganz konkret mehr Härte, auf den verschiedensten Ebenen. Er sollte genau hinschauen, für welche Positionen, Kandidaten und Massnahmen er seine Stimme einlegt. Irgendwie «für die Schweiz» zu sein, ist kein ausreichender Grund, SVP zu wählen, denn bekanntermassen bleibt ein Wolf auch dann ein Wolf, wenn er den Schafspelz überstreift. Als grösste Partei verdient die SVP eine genaue Beobachtung, gerade von den Journalisten. Vielleicht kann das sachlichere Auftreten der SVP es nun endlich ermöglichen, dass sich die Journalisten verabschieden von der allzu emotionalen Beziehung, die sie in den letzten Jahren zu dieser Partei pflegten.

Eine zu starke SVP, die alleine definiert, was «schweizerisch» ist und was nicht, könnte für den Rechtsstaat und die Minderheiten gefährlich werden. Aber damit es soweit kommt, müsste sie schon wie die bayerische CSU über 50 Prozent der Stimmen holen. Und auch dann legt die Direkte Demokratie der Schweiz die jeweiligen Machthaber in ein recht enges Korsett. Die von den anderen politischen Kräften verbreitete Panik vor der SVP ist also nicht angezeigt.

Bild: Pressefoto welcometosvp.ch

September 14, 2015von Ronnie Grob
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Schweizer Wähler

Bachs, 12. September 2015, 12:53 Uhr

Bachs, 12. September 2015, 12:53 Uhr

«Ich werde ganz sicher SVP wählen, Liste 1. Das erste Mal in meinem Leben werde ich die SVP-Liste ohne jegliche Veränderungen einwerfen. Der Grund ist, dass die SVP die einzige Partei ist, die sich für unser Land einsetzt. Ich war früher über viele Jahre bei der FDP: als Gemeinderat, als Gemeindepräsident und in verschiedenen Kommissionen, so zum Beispiel während zehn Jahren in der aussenpolitischen Kommission in Bern. Doch für mich hat die FDP gegenüber der SVP an Klarheit eingebüsst. Das SVP-Parteiprogramm entspricht mir heute besser, und zwar von der Aussenpolitik über das Asylwesen bis zur EU-Frage.»

September 13, 2015von Ronnie Grob
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Schweizer Wähler

Bern, 9. September 2015, 20:08 Uhr

Bern, 9. September 2015, 20:08 Uhr

«Wenn ich die Unterlagen studiere, sortiere ich immer zuerst aus, was nicht in Frage kommt. Und alles, was rechts ist, kommt nicht in Frage. Die SVP versteht es zwar gut, die Themen des Wahlkampfs zu bestimmen, aber ich habe von dieser Partei bisher nicht den Eindruck erhalten, dass sie sich auf konstruktive Weise für die anstehenden Probleme in unserem Land einsetzt. Auf Twitter sind mir schon einige Kandidaten aufgefallen; ich werde dann prüfen, ob die in Frage kommen oder nicht. Mir ist es wichtig, dass die Leute speziell bei den Nationalratswahlen auch wählen gehen. Immerhin legt man damit die Weichen für die kommenden vier Jahre.»

September 12, 2015von Ronnie Grob
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Schweizer Wähler

Bern, 8. September 2015, 17:39 Uhr

Bern, 8. September 2015, 17:52 Uhr

«Sicher bin ich auf der Seite der SVP. Aber auch etwas auf der Seite der CVP, weil dort ein Verwandter von mir politisiert. Der SVP ist eben wichtig, dass man die Schweiz erhält und sie nicht in der EU aufgeht. Ich finde die Regeln und Gesetze, die wir in der Schweiz haben, recht gut. Und ich finde es nicht gut, wenn man beginnt, Regeln einzuführen, wie das die Grünen machen – diese Partei würde ich nicht wählen. Also es zum Beispiel Homosexuellen erlauben zu wollen, dass diese Kinder adoptieren dürfen – da bin ich nicht so dafür.»

September 11, 2015von Ronnie Grob
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Schweizer Wähler

Bern, 8. September 2015, 17:52 Uhr

Bern, 8. September 2015, 17:52 Uhr

«Ich wähle nicht aufgrund von Parteien, sondern ich will wissen, für was die Leute einstehen. Mir sind Schweizer Werte wichtig. Dass sich die Leute einsetzen, damit es denen gut geht, denen es weniger gut geht. Mir sind soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz und Nachhaltigkeit wichtig. Und dass Kandidaten keine Werbung machen im Stil der SVP, also sensationsmässig mit Themen werben, nur dass sie mehr Stimmen erhalten. Ich wähle Kandidaten, die mehr als nur sich selbst im Blick haben. Also Leute, die wirklich glauben, dass sie etwas ändern können.

Ich werde auf jeden Fall zur Wahl gehen. Denn jeder, der nicht hingeht, über den wird bestimmt, ohne dass er etwas dazu gesagt hat.»

September 9, 2015von Ronnie Grob
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Parlament

Die Debatte im Nationalrat ist tot

Die Nationalräte am ersten Tag der Herbstsession sind wie Schulkinder am ersten Tag nach den langen Sommerferien. Aufgeregt begrüssen sie ihre Gschpänli im Saal, die sie ja schon so lange nicht mehr gesehen haben. Diese Menschen wirken erholt und sehen gesund aus, ihre Stimmung ist hervorragend, und sie lachen und sie schäkern, als wären sie an einer Party. Hätten durch die Sitzreihen ziehende und wie wie Honigkuchenpferde strahlende Parlamentarier wie Oskar Freysinger (SVP) oder Matthias Aebischer (SP) dabei einen Mojito in der Hand, würde das gar nicht nicht mal so verwundern. Der Geräuschpegel im Saal ist extrem hoch, was auch daran liegt, dass richtig viele Nationalräte anwesend sind an diesem ersten Tag. Es plappert und quatscht nur so vor sich hin im Saal.

Ah ja, und da steht dann auch noch jemand am Rednerpult und hält eine Rede. Doch niemand hört zu im Saal. Wirklich: niemand. Alle sind sie beschäftigt mit etwas anderem: Laptop, Smartphone, Zeitung, Gespräche. Dass das Telefonieren im Saal nicht gestattet ist, wirkt fast seltsam.

Am ehesten aufmerksam sind noch die Schulklassen auf der Zuschauertribüne. Doch in ihren Gesichtern findet sich vor allem Unverständnis bezüglich dem, was hier geboten wird. Irgendwie ist es nicht ganz das, was sie erwartet hatten. Der Unterschied ist auch beachtenswert. Während die Schulkinder (nicht nur auf den Zuschauertribünen) zur unbedingten Stille und Seriösität angehalten werden, regiert im Saal (der immerhin die politische Elite des Landes versammelt) zu weiten Teilen der Unernst, die institutionalisierte Respektlosigkeit gegenüber den Rednern durch Nicht-Zuhören, also durch verweigerte Aufmerksamkeit.

Good Wife Galladé

Nehmen wir mal Chantal Galladé (SP) während der Debatte zum Nachrichtendienstgesetz am Montagnachmittag. Dass ich gerade sie auswähle, ist Zufall, aber natürlich auch dem Fakt geschuldet, dass sie direkt unter der Journalistentribüne sitzt.

Ohne dass ich es wollte, kenne ich nun den Sperrcode des Smartphones von Chantal Galladé und das Hintergrundbild auf ihrem Laptop. Ich weiss, dass sich ihr AHV-Ausweis irgendwo zwischen der Carte Blanche des Tages-Anzeigers und anderen Plastikkarten befindet. Auf ihrem Tisch liegen neben dem Laptop und ein paar Papieren auch mehrere Staffeln der durchaus empfehlenswerten US-Serie «The Good Wife». Dass sie eigentlich hart arbeitet, erfahre ich dank Facebook. Sie hat sich nämlich von ihrer Sitznachbarin Evi Allemann (SP) fotografieren lassen während der Debatte und das Resultat umgehend auf Facebook hochgeladen:

Geschäfte und gaaaanz viel Papiere und Akten für den Sessionsstart…

Posted by Chantal Galladé on Montag, 7. September 2015

Hier aus der Gegenperspektive:

Chantal Gallade und Evi Allemann

Ich erschrecke, als Galladé plötzlich ihre extrem gutgelaunt in Angriff genommenen, vielfältigen Tätigkeiten unterbricht und ans Rednerpult stürmt. Es kommt für mich völlig überraschend, aber sie redet zum Nachrichtendienstgesetz. Tatsächlich ist sie sogar an einem Minderheitsantrag beteiligt! Doch kaum sitzt sie wieder, ist alle Aufmerksamkeit für die Gesetzesdebatte dahin. Sogar als Galladé zweimal direkt vom Rednerpult herab namentlich angesprochen wird, hört sie nicht zu. Sie bemerkt es nicht einmal, dass jemand zu ihr spricht, dass jemand sie erwähnt. Die Dringlichkeit von Daniel Vischer (Grüne) geht folglich völlig an ihr vorbei:

In diesem Sinne ersuche ich Sie dringend, von diesem Mehrheitsbeschluss abzurücken. Ich verstehe übrigens auch nicht ganz, warum die SP-Delegation in der Kommission diesen Antrag nicht unterstützt hat, nachdem Frau Galladé vorhin gesagt hat, die Öffentlichkeitsfrage sei einer der zentralen Punkte, die im Gesetz berücksichtigt werden müssten. Diese Frage stellt sich hier viel vordergründiger als im Artikel, zu dem Frau Galladé ihren Minderheitsantrag stellte.

Der Grund ist, dass Galladé bereits wieder im Gespräch mit Sitznachbarin Allemann ist. Um welches politische Geschäft es geht, bleibt offen, aber es muss eines sein, welches das Abdomen anbelangt. Das intensive Zwiegespräch der beiden Frauen wird nämlich von beiden minutenlang mit Gesten begleitet, die den eigenen Bauch betreffen.

Show für die Öffentlichkeit

Wenn nicht mal mehr die an einem Gesetz mit Anträgen beteiligten Parlamentarier zuhören, was geredet wird, dann ist die Debatte im Parlament tot. Oder aber sie ist eine Show für die Öffentlichkeit, das Aufrechterhalten einer in der Realität längst gestorbenen Verhaltensweise, eine leere Attrappe. Im deutschen Bundestag ist die Debatte übrigens ähnlich tot, wird jedoch anders gehandhabt. Bei vielen Diskussionen sind nur je eine Handvoll Parlamentarier von jeder Fraktion anwesend, die dann aber den Reden zuhören. Die eigenen Leute werden beklatscht, die Reden der Anderen mit Zwischenrufen begleitet.

Dass die Debatte im Parlament tot ist, ist auch den Parlamentsdiensten selbst bekannt. In der PDF-Broschüre «Die volle Wahrheit zum halbleeren Saal» auf Parlament.ch steht:

Ein Ratsmitglied, das pausenlos im Rat sässe, würde seine Aufgabe nur zum Teil wahrnehmen. Denn es hat während der Session zahlreiche weitere Verpflichtungen: Es nimmt an Fraktions- und Kommissionssitzungen teil; es stellt sich den Fragen der Medien, schreibt das nächste Votum oder einen Antrag; es kümmert sich um Besuchergruppen, erledigt die Post, macht auch einmal eine Kaffeepause und hat Bespre- chungen mit Bundesräten oder Angestellten des Bundes. Die Allermeisten sind also im Parlamentsgebäude und durchaus aktiv. In der Plenumsdebatte geht es denn auch nicht nur darum, Kolleginnen und Kollegen zu überzeugen, welche die Geschäfte und Positionen meistens bereits kennen, sondern auch darum, Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit zu schaffen.

Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit? Oder einfach nur Ego-Show, um den Wähler und die Parteigenossen für sich zu gewinnen? Wenn es nicht mehr darum geht, jemanden zu überzeugen, dann kann man sich die Reden doch auch einfach sparen.

Ich muss nun etwas korrigieren: Es sind nicht alle Nationalräte die ganze Zeit über taub gegenüber allen gehaltenen Reden. Denn auch in der Debatte zum Nachrichtendienstgesetz kommt es zu einem Moment der zumindest teilweise erstellten Aufmerksamkeit. Als sich nämlich Balthasar Glättli (Grüne) mit eindringlichen Worten an die SVP-Fraktion wendet, hören doch einige von denen zu. Es wird leiser im Saal, vielleicht, weil Glättli mal echt einen Punkt trifft:

Wenn wir nicht der Minderheit Vischer Daniel zustimmen, geben wir dem Nachrichtendienst die Kompetenz, ausländische Staatsbehörden mit Verwanzung anzugreifen, Staaten zu überwachen oder Computernetzwerke zu hacken. Wir müssten uns doch in der Schweiz als neutrales Land dafür einsetzen, dass es im Bereich des Internets auch so etwas wie Regeln gibt, wie das sonst im Kriegsrecht der Fall ist. Stattdessen drehen wir hier an der Eskalationsspirale mit.
Wenn Sie jetzt in der Argumentation das Beispiel des IS bringen, dann muss ich Ihnen sagen, dass dieser Absatz 2 sehr viel weiter gefasst ist. Dieser Absatz 2 kann irgendwelche ausländischen Ziele betreffen. Es ist klar, wenn wir hier dem Nachrichtendienst diese Kompetenz geben, ganz unabhängig davon, wer dann dazu Ja sagen muss, dann überschreiten wir eine dicke, dicke rote Linie! Ich bin überzeugt, dass in einer allfälligen Referendumsabstimmung genau dieser Punkt ein Punkt sein wird, zu dem wir Stimmen finden werden – auch auf der rechten Seite, wo ja immer die Neutralität unseres Landes so hoch gehalten wird -, die sagen: Wir wollen keinen Angriffskrieg der Schweiz, auch nicht im Internet.

«Die wichtigen Debatten finden heute nicht mehr im Parlament statt, sondern in den Medien. Vor allem im Fernsehen», sagt ein ungenannter Parlamentarier im «Zeit»-Artikel von Aline Wanner über den Erfolg des «Sonntalk» auf TeleZüri. Nehmen wir an, dieser Parlamentarier hat recht und der polemische Durcheinandertalk von Markus Gilli ist die Brutstätte der Meinungsbildung heute. Wenn also der «Sonntalk», an dem der «Lust und Frust der Woche» von rhetorisch begabten (und geschulten) Parlamentariern und Journalisten ausgebreitet wird, der Ort ist, wo «die wichtigen Debatten» stattfinden – was bedeutet das für die Schweizer Demokratie? Und kann man den Nationalrat als Ort der Debatte reanimieren? Wenn ja, wie?

P.S.: Eben meldet SDA, dass die Anzahl der Nationalratskandidaten 2015 mit 3802 erneut rekordhoch ist (2011: 3472 Kandidaten). Vielleicht ist das Nationalrats-Mandat heutzutage einfach zu attraktiv.

Nachtrag, 16:50 Uhr Chantal Galladé hat mit einem Tweet reagiert:

@ChantalGallade Wie machen Sie denn das? Der Debatte folgen, aber nicht den Rednern zuhören? Ich kann das jedenfalls nicht.

— Ronnie Grob (@ronniegrob) September 8, 2015

Nachtrag, 23:00 Uhr Und mit weiteren Tweets:

@martinsteiger @ronniegrob @nachbern wieso ist Lügen verbreiten auf Twitter üblich? Ok… Wusste ich halt nicht.

— Chantal Galladé (@ChantalGallade) September 8, 2015

@ChantalGallade Ich halte an meinen Beobachtungen fest. Und ich verbreite keine Lügen. Ausführliche Diskussion hier: https://t.co/zWpRxOJRCs

— Ronnie Grob (@ronniegrob) September 8, 2015

September 8, 2015von Ronnie Grob
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Über mich


© Daniel Jung
Hallo, mein Name ist Ronnie Grob. Seit 2007 arbeite ich als Journalist und Blogger. Ich bin verantwortlich für Nach Bern! – eine Website, die den Wahlkampf um die Schweizer Parlamentswahlen am 18. Oktober 2015 verfolgte. Details dazu HIER.

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