Nach Bern!
Schweizer Wahlkampf 2015
bundespalast ronnie Nach Bern!
Schweizer Wahlkampf 2015
Interview

«Ich bin nicht der Typ, der jedem Reporter die Hand schütteln und sich nach seinem Wohlbefinden erkundigen muss»

Urs Schläfli (CVP) belegt im Sonntagsblick-Rating der «grössten Hinterbänkler» im Parlament den ersten Platz. Nomen est omen? Im Gespräch über Journalisten und Lobbyisten und über die Arbeitsbelastung eines Nationalrats stellt sich der Bauer aus Deitingen als gar nicht so langweilig heraus.

Artikel im Sonntagsblick vom 13. September 2015
Bild: Auschnitt des Artikels im Sonntagsblick vom 13. September 2015.

Herr Schläfli, ich habe jetzt eben dreissig Minuten lang erfolglos Solothurner dafür zu begeistern versucht, bei der Rubrik «Schweizer Wähler» mitzumachen. Sind Solothurner zurückhaltender als andere?
Das glaube ich nicht. Solothurn ist ein kleines, schönes Städtchen, eine typische Durchschnittsstadt in der Schweiz.

Sie sind aus Deitingen. Wie viele Einwohner hat Deitingen?
2000 Einwohner. Wir haben 20 Bauern, wovon die eine Hälfte voll erwerbstätig ist, die andere Hälfte den Betrieb im Nebenerwerb führt.

Sie bezeichnen sich als Meisterlandwirt. Wie viele Tage die Woche sind Sie Bauer?
Ich bewirtschafte einen viehfreien Betrieb mit Ackerbau. Im Winter beschäftigt mich das etwa einen Tag in der Woche, im Sommer ist es mehr. Bei Spitzenzeiten habe ich zum Glück auch ein paar Freunde im Dorf, die ich anrufen kann und die mir aushelfen.

Hat es im Parlament nicht schon genug Bauern? Ich war gestern im Wallis. Ein Politiker sagte mir, dass solange es in Bern mehr Bauern habe als Touristiker, das für ihn Motivation genug sei, zu kandidieren.
(Lacht) Ob es genügend Bauern hat oder nicht in Bern, ist schwierig zu beantworten. Man sagt immer, es sei die stärkste Lobby. Dabei gibt es einige Akademiker in Bern, die irgendwann mal eine bäuerliche Ausbildung gemacht haben. Die gelten oft als Bauern, vertreten jedoch gar nicht alle Bauerninteressen. Ich dagegen schon, das gebe ich auch gerne zu. Ich stehe ein für eine Bevölkerung mit wertkonservativer Haltung, für Bodenständigkeit.

Welche weiteren Interessen vertreten Sie? Wie jeder Parlamentarier können Sie zwei Badges vergeben. Sie ermöglichen den Zutritt Lobbyist Roman Weissen und Konrad Imbach, dem Geschäftsführer des Verbands GebäudeKlima Schweiz. Warum?
Konrad Imbach ist ein guter Kollege von mir, der auf der gleichen Liste kandidiert, das ist ein Freundschaftsdienst. Auf Roman Weissen kam ich über einen Kontakt bei der Partei, ich kannte ihn vorher nicht. Ich prüfte darauf hin, wer das ist und was der für eine Einstellung hat und kam dann zum Schluss, dass ich es absolut vertreten kann, dass er meinen Badge erhält.

Was haben Sie denn jetzt davon?
Nichts. Ich habe den beiden nichts versprochen und sie mir umgekehrt auch nicht.

Dann hätten sie die Badges doch auch einfach nicht vergeben können?
Ja, das wäre auch eine Variante gewesen. Inhaber von Badges sind jedoch auch immer Informationsquellen. Wenn ich Roman Weissen treffe, dann vorwiegend im Bundeshaus.

Wurde Ihnen etwas bezahlt für einen der Badges?
Nein, keinen Franken, ich würde dafür auch nie Geld nehmen. Die Gerüchte gehen zwar, dass es Gebote für diese Badges gibt in der Höhe von 10 000 Franken und mehr. Mich erreichte jedoch nur ein konkretes Angebot in der Höhe von 200 Franken, das ich natürlich abgelehnt habe. Im Wahlkampf gab es Angebote, Inserate in Verbandszeitungen für mich schalten zu lassen – im Gegenzug hätte ich mich dann aber verpflichten müssen, ihre Meinung in den nächsten vier Jahren zu vertreten. Auch das habe ich abgelehnt. Ich bin unabhängig, soweit ich das sein kann und bestreite auch meinen Wahlkampf vorwiegend aus eigenen Mitteln. Hinter mir steht kein finanziell potenter Industrieller oder so. Ich bin lediglich Vizepräsident des Solothurnischen Bauernverbands. Die drucken nun Flugblätter mit allen acht bäuerlichen Kandidaten des Kantons.

Ich habe gelesen, ihr Wahlkampf-Budget ist beschränkt. Wie hoch ist es denn?
Vor vier Jahren setzte ich rund 3000 Franken ein, heuer wohl etwa 4000 oder 5000 Franken. Hinzu kommt die Zeit für meine Arbeit und die von Freunden, die mir geholfen haben, zum Beispiel, um Wahlplakate aufzustellen. Dabei aktiv unterstützt wurde ich auch von der solothurnischen katholischen Bauernvereinigung, aber nicht finanziell.

Sie haben bisher erst fünf Tweets abgesetzt, unter anderem reagierten Sie auf eine Auswertung des Sonntags-Blicks, in der Sie als Nummer 1 der «grössten Hinterbänkler in Bern» hervorgingen.

Wer den Medien nicht nachrennt, dem rennen sie eben selbst nach. Doch so prominent im Sonntagsblick wie ich es heute bin ist selten einer!!

— Urs Schläfli (@SchlaefliUrs) September 13, 2015


Sie kommen im Text mit dem Zitat «ich renne den Medien nicht hinterher» vor. Wie ist ihre Beziehung zu den Medien?
Ich bin seit 2011 im Parlament und habe dann auch gleich die negativen Seiten der Medien kennengelernt. Die Journalisten schreiben halt, wie sie es wollen oder interpretieren, und das ist auch gut so. Aber als Politiker steht man dann schon öfters schräg in der Landschaft, weil Zitate nur teilweise zitiert werden oder von einer Geschichte nur ein Teil abgedruckt wird. Wenn ich Journalisten sah in der Wandelhalle, habe ich sie jeweils freundlich begrüsst. Aber der Typ, der jedem Reporter die Hand schütteln und sich nach seinem Wohlbefinden erkundigen muss, bin ich nicht.

Gibt es denn solche Nationalräte?
Ja, es gibt schon Parlamentarier, die Kontakte zu Journalisten eifrig pflegen. Mir liegt das nicht so. Ich pflege jene Kontakte, die ich gerne pflegen möchte. Aus heutiger Sicht muss ich jedoch sagen, dass ich die Bedeutung der Medien absolut unterschätzt habe. Man kann als Nationalrat die beste Arbeit abliefern, aber wenn niemand davon erfährt, ist es ohne Bedeutung. Den Kampf um Aufmerksamkeit kann man gut bei bedeutungslosen und chancenlosen Vorstössen von Parlamentariern beobachten – teilweise machen die Medien um diese ein riesiges Cabaret. Ich nehme mich davon auch nicht aus, denn ohne Vorstösse ist man als Parlamentarier nicht existent in den Medien. Den Umgang mit den Medien muss man als Parlamentarier lernen, mir hat das zu Beginn vielleicht etwas gefehlt. Ich war zuvor ja nur zwei Jahre im Kantonsrat und hatte dort wenig Umgang mit den Medien.

Macht nicht jeder Politiker heute ein Medientraining?
Ja, ganz zu Beginn war ich mal einen Tag lang in einem Medientraining.

Was lernt man denn dort?
Wie man richtig vor der Kamera steht zum Beispiel oder sich richtig ausdrückt. Es gibt aber wohl Politiker, denen die Medienarbeit leichter von der Hand geht und andere, die mehr Mühe damit haben. In den letzten beiden Sessionen habe ich nun vermehrt angefangen, selbst aktiv auf die Journalisten zuzugehen. Man muss denen halt eben auch ab und zu etwas stecken, wenn man nicht als «Hinterbänkler» abgestempelt werden will. Es funktioniert nicht, wenn man einfach nur wartet, abgeholt zu werden. Auf der anderen Seite will ich auch mich selbst bleiben können, ich bin ja kein Schauspieler.

Haben Sie denn mit den Lobbyisten mehr Kontakt als mit den Journalisten?
Mit ihnen habe ich immer wieder Kontakt, ich finde es spannend, mit denen zu diskutieren. Es ist ein Austausch der Argumentarien, den ich nicht als negativ betrachte, sondern als informativ, eine Bereicherung der Meinungsbildung durch persönliche Kontakte. Am Ende entscheide ich dann natürlich trotzdem selbst und unabhängig.

Nach vier Jahren im Bundeshaus: was ist anders, als sie erwartet hätten?
Der zeitliche Aufwand ist grösser als gedacht. Einem erfahrenen Juristen fällt es gerade zu Beginn natürlich leichter, sich in den Aufbau eines Gesetzes einzuarbeiten als einem juristisch nicht ausgebildeten Landwirt. Es mag sein, dass andere die anfallende Arbeit in einem 50-Prozent-Pensum meistern können. Bei mir geht es schon eher in Richtung 80 Prozent, wenn man alle Aufgaben dazuzählt. Es gibt heute kaum einen Tag, an dem ich nicht irgendwelche Unterlagen studiere. Ich habe die sogar schon mit zur Feldarbeit genommen.

Ist es möglich, neben dem Nationalratsmandat einen 100-Prozent-Job zu erledigen?
Ich wüsste nicht wie. Meine Arbeitszeiten auf dem Bauernhof sind der Fläche des bewirtschafteten Kulturlands angepasst und belaufen sich auf ein Pensum von 50 Prozent. Ich bin so ab und zu zeitlich am Limit, aber ich kann es leisten.

Was würden Sie im Parlamentsbetrieb ändern?
Für meinen Geschmack wird zu viel geredet. Reden im Nationalratssaal darf man ja nur zu jenen Geschäften, die man in der vorberatenden Kommission behandelt hat. Diese Regelung ist in Ordnung. Die Behandlung von Volksinitiativen dagegen gehört in die Kategorie 1, das heisst, hier darf jeder reden, wenn er will, maximal fünf Minuten lang. Und so reden dann jeweils 60, 70, 80 Nationalräte …

… weil sie endlich mal was sagen dürfen?
Ja, genau. Aber dann kommen doch nur immer wieder die gleichen Argumente. Man müsste da ehrlicherweise zugeben, dass längst alles gesagt ist, die Positionen der Parteien protokolliert. Doch die Möglichkeit zu einem Auftritt will man sich dann doch nicht entgehen lassen.

Es hört ja auch niemand zu. Wie ist das?
Zu Beginn störte mich das ungemein. Es ist eine Art Schaulaufen.

Und für wen eigentlich? Für die Medien? Geht es nicht nur darum, um mit einem Satz in der Hauptausgabe der «Tagesschau» zu landen?
Das haben Sie jetzt gesagt, ich habe es nur gedacht.

Wieso sind Sie überhaupt in der CVP?
Die christlichen Grundwerte sind mir schon wichtig, auch wenn ich nicht jeden Sonntag in die Kirche gehe. Ich bin aus einer CVP-Familie und fühlte mich von Anfang an wohl in der Partei, es ist eine Mittepartei. Die SVP ist mir bei den Themen Asyl- und Sozialpolitik zu radikal.

Wie schätzen Sie es ein: werden Sie wiedergewählt?
Vor zwei Monaten war ich fast überzeugt, dass es funktionieren könnte. In der Zwischenzeit bin ich mir nicht mehr so sicher. Denn dieses Sonntagsblick-Rating wurde in der massgeblichen Lokalzeitung, der Solothurner Zeitung, nun schon dreimal zitiert, dreimal wurde ich dort als «Hinterbänkler» bezeichnet. Eigentlich könnten die Journalisten doch einfach «der stille Schaffer» schreiben. Für mich zählt die seriöse Vorbereitung der Geschäfte mehr als die Medienaufmerksamkeit oder irgendwelche Ratings.

Das Gespräch mit Urs Schläfli wurde am 30. September 2015, um 14 Uhr, in Solothurn geführt.

Oktober 5, 2015von Ronnie Grob
FacebookTwitterPinterestGoogle +Stumbleupon
Parlament

Per sofort kein Zutritt mehr zum Bundeshaus für Nachbern.ch

Heute morgen um 10:32 Uhr habe ich dieses E-Mail erhalten von den Parlamentsdiensten des Bundeshauses:

Sehr geehrter Herr Grob

Leider mussten wir Ihre Akkreditierung zum Parlamentsgebäude sperren und Sie haben ab sofort keinen Zutritt mehr.

Wir sehen uns zu diesem Schritt gezwungen, nachdem Sie die Verhaltensregeln für Medienschaffende im Gebäude (die mit der Bestätigung zugestellt wurden) in grober Art missachtet haben. Einerseits sind Fotoaufnahmen von der Presstribüne aus bewilligungspflichtig, andererseits ist ausdrücklich auf die Vertraulichkeit von Dokumenten auf den Pulten der Ratsmitglieder hingewiesen. Es geht in keiner Art und Weise an, dass Sie ohne Bewilligung fotografieren und sich mit Kenntnissen über Daten von Ratsmitgliedern – welche Sie auf den Pulten einsehen konnten – in aller Öffentlichkeit brüsten.

Mit freundlichen Grüssen

Mark Stucki
Bereichsleiter
Information
Parlamentsdienste, CH-3003 Bern

Der Absender des E-Mails, Mark Stucki, war vor seiner Tätigkeit bei den Parlamentsdiensten übrigens Journalist, unter anderem als Bundeshauskorrespondent für die Sendung «10 vor 10» des Schweizer Fernsehens.

Tatsächlich habe ich einen Punkt auf dem «Merkblatt für Medienschaffende im Parlamentsgebäude» nicht eingehalten:

Auf den Presse- und Zuschauertribünen sind Foto-, Film- und Tonaufnahmen bewilligungspflichtig.

Ich habe für zwei von mir gemachten und im Beitrag «Die Debatte im Nationalrat ist tot» veröffentlichten Fotos keine Bewilligung eingeholt. Und das ist tatsächlich nicht absichtlich geschehen. Denn eigentlich hatte ich gar nicht vor, von der Pressetribüne aus zu fotografieren und habe darum auch nur mein Mobiltelefon mitgenommen und keinen Fotoapparat. Aber nachdem neben mir verschiedene Fotografen mit riesigen Objektiven Fotos machten und auch Evi Allemann (SP) im Ratssaal fotografierte, dachte ich, das sei erlaubt und habe mich nicht mehr an die Formulierung im Merkblatt erinnert.

Gegen den zweiten im E-Mail angemahnten Punkt – ich würde mich mit «Kenntnissen über Daten von Ratsmitgliedern» brüsten – habe ich nicht verstossen. Festgehalten im Merkblatt ist lediglich:

«Es ist verboten, Aufnahmen von Akten und Schriftstücken zu machen.»

Das habe ich nicht gemacht. Auf den beiden Fotos, die ich im betreffenden Beitrag veröffentlicht habe, sind keinerlei Akten und Schriftstücke erkennbar. Wenn schon, sind eher im Facebook-Eintrag von Chantal Galladé (SP) persönliche Akten und Schriftstücke erkennbar. Und dass man Beobachtungen im Parlament aufschreibt, ist doch Sinn der Einrichtung einer Journalistentribüne, oder etwa nicht?

Persönlich empfinde ich den sofortigen Entzug meiner Akkreditierung als eine gar harte Massnahme. Wäre es nicht angezeigt gewesen, zunächst das Gespräch mit mir zu suchen und vielleicht eine Verwarnung auszusprechen? Mir stellt sich auch die Frage der Medienfreiheit. Ist das von den Parlamentsdiensten verfasste Merkblatt vielleicht schon an sich eine Einschränkung der Medienfreiheit?

Was meint ihr? Ist es in Ordnung, dass ich überhaupt nicht mehr ins Parlament eingelassen werde, nur weil ich zwei recht harmlose Fotos unserer Parlamentarier bei der Arbeit veröffentlicht habe, auf denen keinerlei Akten und Schriftstücke erkennbar sind?

Nachtrag, 14. September 2015, 17 Uhr: Nach einem klärenden Gespräch mit Mark Stucki wird mir die Akkreditierung für das Bundeshaus ab dem 15. September 2015 wieder erteilt.

September 9, 2015von Ronnie Grob
FacebookTwitterPinterestGoogle +Stumbleupon
Parlament

Die Debatte im Nationalrat ist tot

Die Nationalräte am ersten Tag der Herbstsession sind wie Schulkinder am ersten Tag nach den langen Sommerferien. Aufgeregt begrüssen sie ihre Gschpänli im Saal, die sie ja schon so lange nicht mehr gesehen haben. Diese Menschen wirken erholt und sehen gesund aus, ihre Stimmung ist hervorragend, und sie lachen und sie schäkern, als wären sie an einer Party. Hätten durch die Sitzreihen ziehende und wie wie Honigkuchenpferde strahlende Parlamentarier wie Oskar Freysinger (SVP) oder Matthias Aebischer (SP) dabei einen Mojito in der Hand, würde das gar nicht nicht mal so verwundern. Der Geräuschpegel im Saal ist extrem hoch, was auch daran liegt, dass richtig viele Nationalräte anwesend sind an diesem ersten Tag. Es plappert und quatscht nur so vor sich hin im Saal.

Ah ja, und da steht dann auch noch jemand am Rednerpult und hält eine Rede. Doch niemand hört zu im Saal. Wirklich: niemand. Alle sind sie beschäftigt mit etwas anderem: Laptop, Smartphone, Zeitung, Gespräche. Dass das Telefonieren im Saal nicht gestattet ist, wirkt fast seltsam.

Am ehesten aufmerksam sind noch die Schulklassen auf der Zuschauertribüne. Doch in ihren Gesichtern findet sich vor allem Unverständnis bezüglich dem, was hier geboten wird. Irgendwie ist es nicht ganz das, was sie erwartet hatten. Der Unterschied ist auch beachtenswert. Während die Schulkinder (nicht nur auf den Zuschauertribünen) zur unbedingten Stille und Seriösität angehalten werden, regiert im Saal (der immerhin die politische Elite des Landes versammelt) zu weiten Teilen der Unernst, die institutionalisierte Respektlosigkeit gegenüber den Rednern durch Nicht-Zuhören, also durch verweigerte Aufmerksamkeit.

Good Wife Galladé

Nehmen wir mal Chantal Galladé (SP) während der Debatte zum Nachrichtendienstgesetz am Montagnachmittag. Dass ich gerade sie auswähle, ist Zufall, aber natürlich auch dem Fakt geschuldet, dass sie direkt unter der Journalistentribüne sitzt.

Ohne dass ich es wollte, kenne ich nun den Sperrcode des Smartphones von Chantal Galladé und das Hintergrundbild auf ihrem Laptop. Ich weiss, dass sich ihr AHV-Ausweis irgendwo zwischen der Carte Blanche des Tages-Anzeigers und anderen Plastikkarten befindet. Auf ihrem Tisch liegen neben dem Laptop und ein paar Papieren auch mehrere Staffeln der durchaus empfehlenswerten US-Serie «The Good Wife». Dass sie eigentlich hart arbeitet, erfahre ich dank Facebook. Sie hat sich nämlich von ihrer Sitznachbarin Evi Allemann (SP) fotografieren lassen während der Debatte und das Resultat umgehend auf Facebook hochgeladen:

Geschäfte und gaaaanz viel Papiere und Akten für den Sessionsstart…

Posted by Chantal Galladé on Montag, 7. September 2015

Hier aus der Gegenperspektive:

Chantal Gallade und Evi Allemann

Ich erschrecke, als Galladé plötzlich ihre extrem gutgelaunt in Angriff genommenen, vielfältigen Tätigkeiten unterbricht und ans Rednerpult stürmt. Es kommt für mich völlig überraschend, aber sie redet zum Nachrichtendienstgesetz. Tatsächlich ist sie sogar an einem Minderheitsantrag beteiligt! Doch kaum sitzt sie wieder, ist alle Aufmerksamkeit für die Gesetzesdebatte dahin. Sogar als Galladé zweimal direkt vom Rednerpult herab namentlich angesprochen wird, hört sie nicht zu. Sie bemerkt es nicht einmal, dass jemand zu ihr spricht, dass jemand sie erwähnt. Die Dringlichkeit von Daniel Vischer (Grüne) geht folglich völlig an ihr vorbei:

In diesem Sinne ersuche ich Sie dringend, von diesem Mehrheitsbeschluss abzurücken. Ich verstehe übrigens auch nicht ganz, warum die SP-Delegation in der Kommission diesen Antrag nicht unterstützt hat, nachdem Frau Galladé vorhin gesagt hat, die Öffentlichkeitsfrage sei einer der zentralen Punkte, die im Gesetz berücksichtigt werden müssten. Diese Frage stellt sich hier viel vordergründiger als im Artikel, zu dem Frau Galladé ihren Minderheitsantrag stellte.

Der Grund ist, dass Galladé bereits wieder im Gespräch mit Sitznachbarin Allemann ist. Um welches politische Geschäft es geht, bleibt offen, aber es muss eines sein, welches das Abdomen anbelangt. Das intensive Zwiegespräch der beiden Frauen wird nämlich von beiden minutenlang mit Gesten begleitet, die den eigenen Bauch betreffen.

Show für die Öffentlichkeit

Wenn nicht mal mehr die an einem Gesetz mit Anträgen beteiligten Parlamentarier zuhören, was geredet wird, dann ist die Debatte im Parlament tot. Oder aber sie ist eine Show für die Öffentlichkeit, das Aufrechterhalten einer in der Realität längst gestorbenen Verhaltensweise, eine leere Attrappe. Im deutschen Bundestag ist die Debatte übrigens ähnlich tot, wird jedoch anders gehandhabt. Bei vielen Diskussionen sind nur je eine Handvoll Parlamentarier von jeder Fraktion anwesend, die dann aber den Reden zuhören. Die eigenen Leute werden beklatscht, die Reden der Anderen mit Zwischenrufen begleitet.

Dass die Debatte im Parlament tot ist, ist auch den Parlamentsdiensten selbst bekannt. In der PDF-Broschüre «Die volle Wahrheit zum halbleeren Saal» auf Parlament.ch steht:

Ein Ratsmitglied, das pausenlos im Rat sässe, würde seine Aufgabe nur zum Teil wahrnehmen. Denn es hat während der Session zahlreiche weitere Verpflichtungen: Es nimmt an Fraktions- und Kommissionssitzungen teil; es stellt sich den Fragen der Medien, schreibt das nächste Votum oder einen Antrag; es kümmert sich um Besuchergruppen, erledigt die Post, macht auch einmal eine Kaffeepause und hat Bespre- chungen mit Bundesräten oder Angestellten des Bundes. Die Allermeisten sind also im Parlamentsgebäude und durchaus aktiv. In der Plenumsdebatte geht es denn auch nicht nur darum, Kolleginnen und Kollegen zu überzeugen, welche die Geschäfte und Positionen meistens bereits kennen, sondern auch darum, Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit zu schaffen.

Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit? Oder einfach nur Ego-Show, um den Wähler und die Parteigenossen für sich zu gewinnen? Wenn es nicht mehr darum geht, jemanden zu überzeugen, dann kann man sich die Reden doch auch einfach sparen.

Ich muss nun etwas korrigieren: Es sind nicht alle Nationalräte die ganze Zeit über taub gegenüber allen gehaltenen Reden. Denn auch in der Debatte zum Nachrichtendienstgesetz kommt es zu einem Moment der zumindest teilweise erstellten Aufmerksamkeit. Als sich nämlich Balthasar Glättli (Grüne) mit eindringlichen Worten an die SVP-Fraktion wendet, hören doch einige von denen zu. Es wird leiser im Saal, vielleicht, weil Glättli mal echt einen Punkt trifft:

Wenn wir nicht der Minderheit Vischer Daniel zustimmen, geben wir dem Nachrichtendienst die Kompetenz, ausländische Staatsbehörden mit Verwanzung anzugreifen, Staaten zu überwachen oder Computernetzwerke zu hacken. Wir müssten uns doch in der Schweiz als neutrales Land dafür einsetzen, dass es im Bereich des Internets auch so etwas wie Regeln gibt, wie das sonst im Kriegsrecht der Fall ist. Stattdessen drehen wir hier an der Eskalationsspirale mit.
Wenn Sie jetzt in der Argumentation das Beispiel des IS bringen, dann muss ich Ihnen sagen, dass dieser Absatz 2 sehr viel weiter gefasst ist. Dieser Absatz 2 kann irgendwelche ausländischen Ziele betreffen. Es ist klar, wenn wir hier dem Nachrichtendienst diese Kompetenz geben, ganz unabhängig davon, wer dann dazu Ja sagen muss, dann überschreiten wir eine dicke, dicke rote Linie! Ich bin überzeugt, dass in einer allfälligen Referendumsabstimmung genau dieser Punkt ein Punkt sein wird, zu dem wir Stimmen finden werden – auch auf der rechten Seite, wo ja immer die Neutralität unseres Landes so hoch gehalten wird -, die sagen: Wir wollen keinen Angriffskrieg der Schweiz, auch nicht im Internet.

«Die wichtigen Debatten finden heute nicht mehr im Parlament statt, sondern in den Medien. Vor allem im Fernsehen», sagt ein ungenannter Parlamentarier im «Zeit»-Artikel von Aline Wanner über den Erfolg des «Sonntalk» auf TeleZüri. Nehmen wir an, dieser Parlamentarier hat recht und der polemische Durcheinandertalk von Markus Gilli ist die Brutstätte der Meinungsbildung heute. Wenn also der «Sonntalk», an dem der «Lust und Frust der Woche» von rhetorisch begabten (und geschulten) Parlamentariern und Journalisten ausgebreitet wird, der Ort ist, wo «die wichtigen Debatten» stattfinden – was bedeutet das für die Schweizer Demokratie? Und kann man den Nationalrat als Ort der Debatte reanimieren? Wenn ja, wie?

P.S.: Eben meldet SDA, dass die Anzahl der Nationalratskandidaten 2015 mit 3802 erneut rekordhoch ist (2011: 3472 Kandidaten). Vielleicht ist das Nationalrats-Mandat heutzutage einfach zu attraktiv.

Nachtrag, 16:50 Uhr Chantal Galladé hat mit einem Tweet reagiert:

@ChantalGallade Wie machen Sie denn das? Der Debatte folgen, aber nicht den Rednern zuhören? Ich kann das jedenfalls nicht.

— Ronnie Grob (@ronniegrob) September 8, 2015

Nachtrag, 23:00 Uhr Und mit weiteren Tweets:

@martinsteiger @ronniegrob @nachbern wieso ist Lügen verbreiten auf Twitter üblich? Ok… Wusste ich halt nicht.

— Chantal Galladé (@ChantalGallade) September 8, 2015

@ChantalGallade Ich halte an meinen Beobachtungen fest. Und ich verbreite keine Lügen. Ausführliche Diskussion hier: https://t.co/zWpRxOJRCs

— Ronnie Grob (@ronniegrob) September 8, 2015

September 8, 2015von Ronnie Grob
FacebookTwitterPinterestGoogle +Stumbleupon

Über mich


© Daniel Jung
Hallo, mein Name ist Ronnie Grob. Seit 2007 arbeite ich als Journalist und Blogger. Ich bin verantwortlich für Nach Bern! – eine Website, die den Wahlkampf um die Schweizer Parlamentswahlen am 18. Oktober 2015 verfolgte. Details dazu HIER.

RSS

RSS-Feed von nachbern.ch

via E-Mail abonnieren

Gib Deine E-Mail-Adresse an, um diesen Blog zu abonnieren und Benachrichtigungen über neue Beiträge via E-Mail zu erhalten.

Neueste Beiträge

  • Rückblick auf Nachbern.ch 2015
  • «Am meisten bringt es, wenn man authentisch ist»
  • Neuenkirch, 17. Oktober 2015, 11:15 Uhr
  • Brig, 28. September 2015, 20:33 Uhr
  • «Wir von Lobbywatch.ch recherchieren diese Fragen, deren Transparenz eigentlich Aufgabe des Staates sein müsste»

Letzte Kommentare

  • Michael Stucki bei Rückblick auf Nachbern.ch 2015
  • Ronnie Grob bei Rückblick auf Nachbern.ch 2015
  • Supportmän bei Rückblick auf Nachbern.ch 2015
  • Ronnie Grob bei Bern, 22. September 2015, 16:13 Uhr
  • Michael bei Bern, 22. September 2015, 16:13 Uhr

Twitter @nachbern

Tweets von @nachbern

Twitter @ronniegrob

Tweets by @ronniegrob

1 Die Schweizerische Eidgenossenschaft schützt die Freiheit und die Rechte des Volkes und wahrt die Unabhängigkeit und die Sicherheit des Landes.
2 Sie fördert die gemeinsame Wohlfahrt, die nachhaltige Entwicklung, den inneren Zusammenhalt und die kulturelle Vielfalt des Landes.
3 Sie sorgt für eine möglichst grosse Chancengleichheit unter den Bürgerinnen und Bürgern.
4 Sie setzt sich ein für die dauerhafte Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und für eine friedliche und gerechte internationale Ordnung.


Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Art. 2 Zweck

© 2015 copyright Ronnie Grob // All rights reserved //